Zum ersten Mal konkret in Berührung gekommen bin ich mit dem Thema Bürokratie im Bäckerhandwerk, als ich meine eigene Kursbackstube im Erzgebirge geplant habe. Neben vielen aus praktischer Sicht unnötigen Kleinigkeiten, die mir finanziell und gedanklich Bauchschmerzen bereiteten, kam eine Auflage seitens des für Genehmigung zuständigen Landratsamtes für alle am Bau Beteiligten völlig überraschend: Ich musste für 20.000 Euro eine Be- und Entlüftungsanlage einbauen lassen, um die Gerüche der Backstube 150 cm über dem Dachfirst in die Umgebung abzugeben. Fensteröffnen ist verboten, weil dadurch die Nachbarschaft mit Geruchsemissionen beeinträchtigt würde. Wie die Realität vor Ort aussieht, hat sich der Amtsschimmel nicht angesehen. Es wird vom Schreibtisch aus entschieden. Neben meiner Backstube steht eine kleine Kirche und auf der anderen Seite ein Einfamilienhaus, dessen Bewohner überhaupt kein Problem mit ein wenig Brotgeruch gehabt hätten, zumal die Backstube nicht täglich, sondern nur sporadisch für Kurse in Betrieb ist. Nun bekommt durch das Ablassen der Brotdüfte über das Dach je nach Windrichtung eine Vielzahl an Einwohnern mit, wenn die Öfen laufen, und nicht nur meine aus zwei Personen bestehende unmittelbare Nachbarschaft.
Ein Beispiel von aus meiner Sicht sinnloser Bürokratie. In den vergangenen zehn Jahren meiner Brotgeschichte habe ich viele Bäcker kennengelernt, die im laufenden Betrieb noch einige andere bürokratische Schikanen ein- und auszuhalten haben. Manches davon macht sogar Sinn, aber oft nur für Großbetriebe. In den Verordnungen und Vorschriften wird dabei aber oft kein Unterschied gemacht. Ein Groß- oder Industriebetrieb ist ohne Weiteres in der Lage, Meldungen an das statistische Landes- oder Bundesamt zu geben, Arbeitsschritte minutiös zu protokollieren oder hohe Lizenz- und Kontrollgebühren abzutreten. Für einen kleinen Handwerksbäcker kann all das und noch viel mehr in Summe zum wirtschaftlichen Tod führen. Die vergangenen Jahre und Jahrzehnte haben das gezeigt. Die Großen überleben, die Kleinen schließen. Neben Nachwuchsmangel und teilweise mangelhafter Qualität ist auch die überbordende Bürokratie ein wichtiger Grund für das Bäckereiensterben und für den Preisunterschied zwischen den Großen und den Kleinen. All das sollte uns bewusst sein, wenn wir Brot und Brötchen im Supermarkt oder beim Großbäcker um die Ecke kaufen, anstatt das echte Handwerk zu unterstützen, sofern es noch zu finden ist.
Über befreundete Bäcker bin ich nun an eine Aufstellung gelangt, die ganz wertneutral zeigt, was eine mittelständische Bäckerei heute an Bürokratie auszuhalten hat. Was davon für den einzelnen Bäcker und auch Kunden sinnvoll oder unsinnig ist, soll jeder für sich selbst entscheiden. Die Aufstellung hat Bäckermeister Vielhaber für seine Kunden und Kollegen geschrieben, auch um den regionalen Abgeordneten für Bundestag und EU-Parlament den Spiegel vorzuhalten. Es stehen EU-Wahlen an und jeder hat das Recht und auch die Pflicht, solche Missstände energisch gegenüber seinen politischen Vertretern vorzutragen. Insofern freue ich mich, wenn diese Aufstellung (unter Quellenangabe) eine große Runde dreht und die Politik zum Einlenken bewegt, damit das Handwerk entlastet wird.
„Kosten, die keiner sieht“ (Stand: März 2019, Autor/Quelle: Bäckerei Vielhaber)
Bäckerei allgemein:
- Verfahrensdokumentationen: genaue Beschreibungen über alle Vorgänge in der Verwaltung. Umfang ca. 200 Seiten, die ständig aktuell gehalten werden und dokumentensicher (unveränderbar) gespeichert werden müssen. Alle Veränderungen müssen erkennbar sein. Zur Erstellung sind 200 Arbeitsstunden nötig, danach ständige Aktualisierung
- Untersuchung der Leitern – jährlich
- Prüfung der Hubwagen und Gabelstapler – jährlich
- Psychische Gefährdungsbeurteilungen für alle Arbeitsplätze erstellen und überprüfen – jährlich
- Arbeitsausschusssitzung (Betriebsarzt, Sicherheitsbeauftragter, Mitarbeiter, Chef) – jährlich
- Anbieten der Altersvorsorge – für alle neuen Mitarbeiter/innen
- Untersuchung Lärmvorsorge (für laute Arbeitsplätze) – alle drei Jahre
- Untersuchung Schweißer (Werkstatt) – alle drei Jahre
- Durchführen des Wiedereingliederungsmanagements für Mitarbeiter/innen, die im Jahr 42 Tage oder länger krank sind – regelmäßig
- Anbieten Untersuchung und Beratung Bildschirmarbeitsplätze – alle drei Jahre
- Kontrolle Einhaltung Arbeitsschutzgesetz (Pausen, freie Zeit…) – ständig
- Fremdhandwerker müssen vor Schweiß- oder Flexarbeiten einen entsprechenden Erlaubnisschein ausfüllen. Wir erinnern die Firmen einmal jährlich daran – jährlich bzw. nach Bedarf
- Meldungen an verschiedene Ämter: Monatsbericht (Anzahl tätiger Mitarbeiter/innen, Entgelte, Umsatz, Arbeitsstunden) – monatlich; Produktionserhebung – viermal jährlich; Energieverwendung – jährlich; Handelsstatistik – monatlich; Jahreserhebung Investition, Kostenstruktur – jährlich; Mühlenmeldung (wieviel vermahlen…) – zweimal jährlich
- Gewerbeabfallverordnung: Dokumentation für jede Filiale (4 – 6 Seiten pro Filiale)und Produktion; Dokumentation Abfallmengen je Entsorger; Einholen der Bestätigung zur Vorbehandlungsanlage; Überwachung Mülltrennung – regelmäßig überprüfen
- Verpackungsgesetz: Erstregistrierung, Abschließen eines dualen Vertrages, jährliche Vorabmeldung der geschätzten Mengen je Sorte Verpackung, rückwirkend Angabe tatsächlicher Mengen je Sorte Verpackung; Überwachung aller Verpackungsmaterialien: Serviceverpackung ja/nein? Wer zahlt ESS-Gebühr? – regelmäßig überprüfen
- Wartung und TÜV Aufzüge, Druckkessel, Druckluftanlagen, Tankstelle… – jährlich und zweijährig
UVV – Prüfplakette für Firmen PKW, zusätzlich zu TÜV, Abgasuntersuchung, Wartung und Inspektion – jährlich
Schädlingsmonitoring im gesamten Betrieb einschließlich Filialen – regelmäßig - Lizenzen: ständiges Prüfen und Erwerben wenn nötig – diese sind nicht nur für die benutzten Programme erforderlich, sondern auch für angeschlossene Geräte, die mit dem Betriebssystem verbunden sind: Stempeluhren, Netzwerkdrucker, Smartphones die Emails bekommen usw. Die jährlichen Kosten für die Lizenzen liegen im mittleren vierstelligen Bereich. (Die Zusammenfassung des Beratungsgesprächs dafür umfasst 32 Seiten, Kosten des Gesprächs ca. 3.000,- €…)
- Beratung Energieeinkauf und Kontrolle der Rechnungen Strom und Gas. Das ist so kompliziert, dass es ohne spezielles Fachwissen nicht zu machen ist – regelmäßig
- Kosten für Steuerberatung, Beiträge Bäckerinnung, Handwerkskammer, Zwangsmitgliedsbeiträge IHK… – jährlich
- Versicherungen: Brand, Einbruch, Glasbruch, Elektronik, Blitzschlag, Betriebsunterbrechung, Sturm und Hagel, Haftpflicht, KFZ….
Backstube/Konditorei:
- Schulung Infektion, Unfall und Hygiene (30 – 40 Arbeitsstunden)- jährlich
- Überprüfung Feuerlöscher – alle zwei Jahre
- Schulung Umgang mit Feuerlöschern (30 – 40 Arbeitsstunden) – alle zwei Jahre
- Schulung Ersthelfer (60 – 80 Arbeitsstunden) – alle zwei Jahre
- Schulung Brandhelfer (20 – 30 Arbeitsstunden)- alle zwei Jahre
- Einschicken Proben (Sahne, Wasser, Torten…) für Selbstuntersuchung – dreimal im Jahr
- Gefährdungsbeurteilung pro Abteilung – regelmäßig aktualisieren
- Kontrolle Lebensmittelüberwachung – zweimal pro Jahr, jedes Mal ca. 100,- € Gebühr
- Unterrichtung Arbeiten an Fettpfanne (10 – 20 Arbeitsstunden) – einmal pro Jahr
- Untersuchungsangebot Mehlstaub – alle drei Jahre
- Untersuchung Feuchtarbeitsplatz (Spülmaschine…) – alle drei Jahre
- Sicherheitsdatenblätter (Reinigungsmittel…) und Betriebsanweisungen (Maschinen, Geräte…) aushängen und aktualisieren – ständig
- Arbeitsanweisungen Umgang mit Maschinen – ständig
- Stuhluntersuchung für Mitarbeiter/innen Konditorei – jährlich
- Prüfung ortsfester elektrischer Anlagen – alle vier Jahre
- Prüfung beweglicher elektrischer Anlagen gemäß Vorgaben der Sachversicherer nach den Prüfrichtlinien VdS 2871 durch VdS-anerkannte Sachverständige – alle zwei Jahre
- Anbieten Beratung Nachtarbeit – jährlich, nach Bedarf
- Erstellen und Aktualisierung von Hygieneplänen, täglich, wöchentlich, monatlich, und die Überwachung der Einhaltung dieser Pläne – ständig
- Messen und Dokumentieren von Temperaturen (Anlieferung, Kühl- und Frosterräume) – ständig
- Wartung aller Maschinen, Brenner, Kessel, Tanks, Aufzüge, … – jährlich
- Eichung der Waagen – alle zwei Jahre
- Führen eines Arbeitsmittelverzeichnisses: alle Maschinen und Geräte sind aufgeführt und es wird dokumentiert, wann die Geräte/Maschinen gewartet, repariert worden sind – ständig
Filialen:
- Einhalten der täglichen, wöchentlichen und monatlichen Reinigungspläne – ständig
- Überprüfung der Feuerlöscher – alle zwei Jahre
- Erstellung und Überprüfung der Gefährdungsbeurteilungen für alle Filialen – regelmäßig aktualisieren
- Hygiene- und Infektionsschulung aller Verkäuferinnen (100 Arbeitsstunden) – jährlich
- Schulung Verkaufsleiterinnen, damit sie die Hygieneschulung durchführen können (10 – 20 Arbeitsstunden) – alle zwei Jahre
- Messen und Dokumentieren der Temperaturen von Kühl- und Frosterschränken, Aufschnitt, empfindliche Back- und Konditoreiwaren – täglich
- Kontrolle durch die Lebensmittelüberwachung – pro Filiale mind. einmal im Jahr – Kosten 75,- € je Kontrolle
- Prüfung, Reinigung und Desinfektion der Verdampfer der Kühlmöbel in den Filialen – zweimal im Jahr
- Überprüfung der elektrischen Geräte – alle zwei Jahre
- Zurverfügungstellung von Produktbeschreibungen (Zutaten, Allergene, …) von allen Artikeln (Backwaren, Aufschnitt, Getränke, …) – immer aktuell
- Von allen Produkten (Reinigungsmittel), die in der Filiale benutzt werden, müssen Produktinformationen vorliegen – regelmäßig kontrollieren und aktualisieren
- Für alle Geräte (Ofen, Kasse, Schneidemaschine, Spülmaschine, Eierkocher, Kühlmöbel, …) müssen Betriebsanweisungen in der Filiale vorliegen – regelmäßig kontrollieren und aktualisieren
- Schulung zum Thema: Wie reagiere ich bei einem Überfall oder Gewalt am Arbeitsplatz – alle zwei Jahre
- Bezahlen von GEZ–Beiträgen – unabhängig davon, ob dort Musik gespielt wird oder nicht
- Bezahlen von GEMA–Gebühren, wenn dann wirklich Musik abgespielt wird – in größeren Cafés mit Sitzbereich
- Umrüstung der Kassen, damit sie 10 Jahre lang alle Kassiervorgänge unmanipulierbar speichern
Auslieferung:
- Kontrolle ob Führerscheine noch vorhanden sind – mind. zweimal im Jahr
- Arbeitsmedizinische Eignung (Augen, Brille, …) überprüfen (20 – 30 Arbeitsstunden) – alle
drei Jahre - Schulung Ladungssicherheit (10 – 20 Arbeitsstunden) – alle 2 Jahre
- Module für Fahren mit 7,5 Tonnen LKW (40 Arbeitsstunden) – jährlich ein Modul, Dauer einen Tag
- Beschleunigte Grundausbildung für 7,5 Tonnen LKW – (5 Wochen), einmalig
- Verwalten der Fahrtenschreiber – täglich
- Messen und Dokumentieren von kühlpflichtigen Back- und Konditorwaren sowie Aufschnitt – täglich
- Schulung Infektionsschutzgesetz (40 – 50 Arbeitsstunden) – jährlich
Datenschutz
- Erfassung aller Tätigkeiten mit personenbezogenen Daten (das sind ca. 80 – 100 Tätigkeiten) – regelmäßig kontrollieren und aktualisieren
- Von allen Tätigkeiten, bei denen personenbezogene Daten im Spiel sind müssen Verarbeitungstätigkeitsdokumentationen erstellt werden. Diese beinhalten:
- Abgaben zum Verantwortlichen: verantwortliche Stelle, gesetzlicher Vertreter, Datenschutzbeauftragter
- Grundsätzliche Angaben zur Verarbeitung: Bezeichnung der Verarbeitungstätigkeit, Ansprechpartner, Art und Ort der Verarbeitung
- Allgemeine datenschutzrechtliche Anforderungen: Zweckbestimmung, Rechtmäßigkeit der Verarbeitung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit, Einschätzung des Risikos für Rechte und Freiheiten natürlicher Personen
- Erhebung der Daten: Kreis der betroffenen Personengruppen, Art der gespeicherten Daten, Herkunft der Daten
- Empfänger denen die Daten mitgeteilt werden können: Interne, Externe
- Zugriffsberechtigte Personen
- Auftragsverarbeitung als Auftragsgeber
- Datenübermittlung in Drittländer?
- Regelfristen für Löschung der Daten: Speicherdauer, Nachweis der Löschung
- Beurteilung der Angemessenheit technischer und organisatorischer Maßnahmen: allgemeine Beschreibung, Einschätzung des verbleibenden Risikos
- Stellungnahme des Datenschutzbeauftragten: Prüfung, weiterer Handlungsbedarf?, offene Maßnahmen?
- Prüfung durch die Geschäftsleitung
- Erstellung eines Löschkonzeptes: wie kann sichergestellt werden, dass die Daten nach Ablauf der Frist auch wirklich gelöscht werden? – regelmäßig
- Ernennung eines Datenschutzbeauftragten
- Datenschutzinformationen auf der Homepage, Facebook, Twitter, Briefen, … aktuell halten – ständig
- Einhaltung, Wahrung und Durchsetzung von Betroffenenrechten (ständige Selbstprüfungen) – regelmäßig
- Mitarbeiterschulungen – regelmäßig
- Stetige Prüfung und Anpassung der IT – Sicherheit (Soft- und Hardware) – regelmäßig
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Der Beitrag Bäckerhandwerk vs. Bürokratie – David gegen Goliath erschien zuerst auf Plötzblog - Selbst gutes Brot backen.